Jonathan Franzen ist ein leidenschaftlicher Ornithologe: Wann immer er kann, beobachtet er Vögel. So auch 2017, als er die Schweiz besuchte und einen Abstecher an den Klingnauer Stausee machte. © Samuel Schalch
Jonathan Franzen (60) gehört zu den bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellern der Welt. In seiner Freizeit beobachtet der US-Amerikaner gerne Vögel, was sich auch zunehmend in seinem Werk niederschlägt. Vor einigen Jahren erschien von ihm in GEO eine viel beachtete Reportage über die Wilderei im Mittelmeerraum. Auch andere Umweltprobleme wie den Klimawandel oder die invasiven eingeschleppten Arten thematisiert Jonathan Franzen in seinen neueren Essays.
Jonathan Franzen, Ihre Texte erwecken Vögel zum Leben. Wie schaffen Sie es, die Leserinnen und Leser für die Vögel und die Natur zu begeistern – auch solche, die sich vorher nicht um diese Themen gekümmert haben?
Der Trick ist es, diese Themen mit menschlichen Geschichten und Schicksalen zu verknüpfen. Teils schreibe ich einfach über mich selbst und meine eigene Obsession als Vogelbeobachter. Ein Grossteil meiner journalistischen Texte besteht heutzutage aus direkter oder indirekter Fürsprache für die Vögel – auch da gibt es viele Geschichten zu erzählen, in denen Menschen vorkommen, weil ja viele der Bedrohungen für Vögel vom Menschen verursacht werden. Ich habe zum Beispiel einige Male über die Verfolgung von Zugvögeln rund um das Mittelmeer geschrieben. Dabei habe ich beide Seiten kennengelernt und porträtiert: die Menschen, welche die Vögel verfolgen, wie auch jene, welche die Vögel verteidigen. Das sind dann von Natur aus spannende Geschichten.
Einer Ihrer Beiträge hiess «Why Birds Matter». Wie erklären Sie jemandem, der sich nicht unbedingt für Vögel interessiert, warum diese wichtig sind?
Nachdem ich die Grossartigkeit der Vögel beschrieben hatte, kam ich im Beitrag zum Schluss, dass es nicht auf ihren wirtschaftlichen Wert ankommt. Ich bin nicht einmal von dem Argument überzeugt, dass die Vögel wichtige Indikatoren für die Gesundheit der Ökosysteme sind. Hingegen bin ich der Meinung, dass sie Botschafter einer natürlichen Welt sind, aus welcher der Mensch sich Stück für Stück zurückzieht. Immer weniger von uns können die Natur direkt erleben. Die Vögel sind eine der wenigen Tiergruppen, die noch für alle sichtbar sind: Sie sind immer rund um uns – etwa als Zugvögel am Himmel oder im Busch, oder als Brutvögel in fast jedem Garten.
Doch wie kann man nun die Leute von der Wichtigkeit der Vögel überzeugen? Man kann vielleicht Folgendes sagen: «Vögel regierten die Welt während 65 Millionen Jahren oder länger. Sie waren es, die sich rasant ausbreiteten und entwickelten, um jede erdenkliche ökologische
Nische in grosser Zahl für viele Millionen von Jahren zu füllen. Erst in den letzten Jahrhunderten wurde ihre Dominanz durch den Menschen gebrochen. Aus meiner Sicht gibt es daher ein ethisches Argument dafür, dass man dieser erstaunlichen Tiergruppe, die von der Evolution hervorgebracht wurde, etwas Respekt zollt.
Warum ist der ökonomische Wert der Vögel kein gutes Argument? Ist es nicht so, dass der Mensch nur dann etwas schützt, wenn es ihm etwas bringt?
Viele Menschen würden zwar Vögel als eine Bereicherung für ihr Leben bezeichnen. Aber wenn es hart auf hart kommt und sie zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denjenigen der Vögel wählen müssen, lassen 99% der Menschen die Vögel fallen. Da gibt es nichts, was wir dagegen tun können. Wenn wir nun den ökonomischen Wert der Vögel berechnen, zementieren wir in gewisser Weise diese anthropozentrische Sicht auf die Welt noch. Genau deshalb müssen wir den Fokus eher auf die Ethik verlagern – denn unser Wirtschaftssystem kontrolliert die Welt schon jetzt viel zu stark.
Dieser Vogel beeindruckt Jonathan Franzen am allermeisten: Doppelhornvogel (Buceros bicornis). © Neil Bowman/FLPA
Sie sind relativ spät zur Ornithologie gekommen. Wann haben Sie begonnen, auf die Vögel zu achten?
Mein Interesse flammte auf, als ich das erste Mal in meinem Leben eine Wilson-Drossel sah, eine schöne Drossel, die den Winter in Amerika verbringt. Es war in einem Park, von dem ich dachte, dass ich ihn sehr gut kenne. Während zehn Jahren hatte ich ihn regelmässig besucht. Doch erst als ich mit einer Ornithologin und ihrem Mann spazieren ging und ihr Fernglas benutzte, wurde mir klar, dass ich den Park eigentlich überhaupt nicht kannte. Wir sahen an diesem Nachmittag rund 60 Zugvogelarten. Es war einer der grossen Momente in meinem Leben: Ich merkte, dass es eine ganze Welt gab, die eigentlich 40 Jahre lang in Sichtweite gewesen wäre, die ich aber nie wahrgenommen hatte. Diese Erkenntnis war einfach unglaublich...
Kommen wir auf den Klimawandel zu sprechen. Ich glaube, dass Sie in der Vergangenheit bei diesem Thema missverstanden wurden. Er ist offensichtlich eine grosse Bedrohung. Sie haben jedoch schon gesagt, dass der Fokus auf den Klimawandel die Gefahr berge, andere Probleme zu vernachlässigen, in denen schnellere Fortschritte möglich seien. Ist das richtig?
Das ist ein Teil meiner Überlegungen. Ich denke, wir sollten zugeben, dass wir es bis jetzt nicht geschafft haben, den Klimawandel zu stoppen. Bedeutet das, dass wir aufhören sollten, unsere CO2-Emissionen zu reduzieren? Nein. Bedeutet das, dass wir nicht alles tun sollten, was wir können, um ihn zu mildern und uns anzupassen? Nein. Dann gibt es noch eine andere Sache: Wenn Sie Menschen motivieren möchten, etwas für die Natur zu tun, dann ist es keine besonders gute Strategie, den Menschen Angst einzujagen oder ihnen das Gefühl zu geben, schuldig zu sein. Aber das ist beim Klimawandel, der ein riesiges Problem für die Welt ist, passiert. Das hat nicht funktioniert, und so versuche ich auch auf andere Probleme hinzuweisen, die man schneller lösen kann. So kann man die Menschen motivieren, etwas zu tun: Man zeigt ihnen, was sie in ihrer direkten Umgebung machen können, das sofort sichtbar ist.
Was können denn Einzelpersonen tun, um die Vögel zu schützen?
Das hängt vom jeweiligen Ort ab. Wenn Sie zum Beispiel eine Katze haben, können Sie sie drinnen halten, und sie werden schon bald mehr Vögel in Ihrem Garten sehen. Auch die Verbesserung des Lebensraums vor Ort müsste ganz oben auf der Liste stehen. Etwas hat mich auf der Insel Chatham vor der Küste Neuseelands sehr bewegt. Eine Bauernfamilie entschied sich dazu, Jahrzehnte ihres Lebens dem Schutz des extrem seltenen Magentasturmvogels (Pterodroma magenta) zu widmen. Während Jahrzehnten hatte es niemanden interessiert, dass vom Menschen eingeschleppte Raubtiere (Anm. der Red.: Katzen, Ratten und Possums) die Küken und Eier frassen. Nun aber begannen andere Nachbarn, es der Bauernfamilie gleich zu tun. Sie umzäunten ihr Land und holten die Raubtiere heraus. Sie konnten die Ergebnisse mit eigenen Augen sehen; der Sturmvogel erholte sich. So sind Erfolge möglich: Wenn Leute in ihrer eigenen Umgebung etwas unternehmen können und stolz darauf sind.
Was sind Ihrer Meinung nach die am wenigsten beachteten grossen Bedrohungen für die Vögel?
In Nord- und Südamerika sind es die Hauskatzen, auf vielen Inseln mit Seevögeln richten die vom Menschen eingeschleppten Raubtiere enormen Schaden an. Leider sehen wir auch langfristige Schäden durch die industrielle Landwirtschaft. Und auf hoher See gibt es viele im Grunde gesetzlose Fischerboote, die eine grosse Zahl von Vögeln töten.
Glauben Sie, dass wir die Dinge noch umkehren können? Blicken Sie positiv in die Zukunft?
Nun, auch wenn wir schon morgen weltweit sämtliche CO2-Emissionen stoppen könnten, würden die Temperaturen noch mehrere Jahrhunderte lang steigen. Vor allem in der Arktis sind bestimmte Teufelskreise bereits gestartet: Es wird möglicherweise aufgrund der Eisschmelze zu weiteren Mega-Emissionen von Methan kommen – egal, was wir machen. Da ist es für mich schwer, optimistisch zu sein. Ja, die wunderbare Welt, die in meiner Jugend noch weitgehend erhalten war, mag in anderthalb Jahrhunderten verschwunden sein – aber meine Liebe zu den Vögeln ist so gross, dass sie für mich Grund genug ist, jeden Tag etwas zu tun. Mein Leben hat im Moment einen Sinn, und das ist alles, worum du bitten kannst.
Das Interview erschien zuerst im Magazin von BirdLife International. Übersetzung: Stefan Bachmann
«Vögel regierten während 65 Millionen Jahren»