Viel Lärm um Vögel

Zunehmende Lärmverschmutzung. Der Beginn der Industrialisierung läutete das Ende der Stille ein. Seither stiegen Lautstärke und Dauer der menschgemachten Beschallung kontinuierlich. Dass der Mensch selbst darunter auf verschiedenste Weise leidet, ist vielfach und gut dokumentiert. Aber auch die Tierwelt wird davon beeinträchtigt.


Stefan Greif

05.04.2022, Ornis 2/22

«Huitt… Huitt…» – Ein Tüpfelsumpfhuhn ruft ausdauernd in die warme Juninacht hinaus. Der Vogel ist recht nah, die Aufnahmen zur Dokumentation der Brutaktivität dieser heimlich lebenden Ralle versprechen gut zu werden. Doch da kündigt ein Paar Scheinwerfer schon an, dass auch diese Aufnahme eher kurz werden dürfte. Das Crescendo des Motorengeräusches schwillt an, bis dieses in den Kopfhörern donnernd vorbeirauscht. Unglaublich, wie viel Verkehr selbst um Mitternacht oder vier Uhr morgens auf unseren Stras­sen herrscht! 

Der Mensch verändert seine Umwelt kontinuierlich. Gewisse Auswirkungen sind offensichtlich, wie die Umgestaltung der Landschaft. Auch die Lichtverschmutzung ist im wahrsten Sinne sichtbar. Andere – etwa Rückstände von Medikamenten, Hormonpräparaten oder Pestiziden – sind schwerer zu erfassen, da sie weder sicht- noch spürbar sind. Lärm wiederum ist gut wahrnehmbar und sehr präsent; durch die Dauerbeschallung empfinden wir ihn aber oft als «normal».

Stress für Mensch und Tier

Der alltägliche Geräuschpegel fällt einem erst auf, wenn etwa in der Abgeschiedenheit der Berge plötzlich ein Flugzeug durchfliegt oder das Handy klingelt. Noch eindrücklicher ist es, wenn man für längere Zeit geräuschunterdrückende Kopfhörer getragen hat und diese neben einer Strasse abnimmt. 

Der kontinuierliche Lärmpegel macht sich bei immer mehr Menschen unter anderem durch Stress, Schlafstörungen oder eine generelle Beeinträchtigung des Wohlbefindens bemerkbar. Lärm belastet aber nicht nur Menschen, sondern auch Tiere auf verschiedenste Weise. Eine solche Belastung kann kurzzeitig auftreten: So starben in der Silvesternacht 2020 hunderte Stare in Rom, weil sie durch illegales Feuerwerk aufgescheucht wurden und vermutlich mit Gebäuden kollidierten. Erwiesenermassen störend ist aber auch der kontinuierliche Einfluss des Lärms, etwa von stark befahrenen Strassen. Lärm verändert sowohl das Verhalten der Tiere als auch deren Physiologie. 

Eine Laborstudie zeigte kürzlich an Zebrafinken, dass die kognitiven Leistungen unter Lärmbedingungen merklich beeinträchtigt sind. Lärmbeschallt lösten die Vögel Aufgaben zur Nahrungssuche halb so gut, wobei Fähigkeiten wie Ortsgedächtnis, soziales Lernen oder Erlernen einer Handlung betroffen waren. Ebenfalls bei Zebrafinken wiesen Studien nach, dass unter Lärm der Stresshormonspiegel steigt, die Küken langsamer heranwachsen und die Enden der Chromosomen, die sogenannten Telomere, sich schneller verkürzen, was sich vermutlich negativ auf die Lebensdauer auswirkt. Des Weiteren wuchsen die Jungvögel langsamer und waren weniger genau im Lernen des Gesangs.

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Während ein Auto durchfährt, ruft das Tüpfelsumpfhuhn vergebens; seine Laute gehen im Autolärm unter. Auf dem Spektrogramm erscheinen die «Huitt»-Rufe des Tüpfelsumpfhuhns als dunkle Striche in regelmässigem Abstand. Das tannenbaumförmige dunkle Band stammt von einem herannahenden Auto, welches so laut wird, dass es alles andere übertönt. © Mathias Schäf

Reduzierte Reichweite

Offensichtlicher als die bisher beschriebenen Effekte des Lärms auf Tiere sind die Veränderungen des Verhaltens, da Lärm natürlich auch die Kommunikation beeinträchtigt. Eine singende Amsel im Wald ist für einen Artgenossen normalerweise mindestens 170 Meter weit hörbar. In einer 60 Dezibel lauten Stadt verkürzt sich dies auf ungefähr 35 Meter. Strassenlärm kann in einer Entfernung von 20 Metern auch bereits die Alarmrufe von Kohlmeisen übertönen, was zu reduzierter Wachsamkeit und erhöhter Gefahr durch Beutegreifer führt. Dies kann auch einen artübergreifenden Einfluss haben: Rotkardinale in Nordamerika hören normalerweise auf die Alarmrufe von Meisen. Ihre Reaktion verschwindet aber, wenn die Rufe zeitgleich mit Strassenlärm erfolgen.

Auch in der Natur gibt es laute Umgebungen, etwa ein gurgelnder Bach oder ein plätschernder Fluss. Vögel aus diesem Lebensraum wie etwa die Wasseramsel oder die Gebirgstelze singen jedoch so hoch, dass die Lautäusserungen über dem Rauschen des Wassers liegen und damit gut gehört werden können. Bei Vögeln in der Stadt, etwa Kohlmeisen, Amseln oder auch Nachtigallen, fand man ein im Ansatz ähnliches Muster: Bei Lärm singen sie um etwa 200 Hertz höher. Zuerst ging man davon aus, dass die Vögel durch das Höherlegen der Stimme quasi versuchen, am Stras­senlärm vorbeizusingen. Damit würde die Frequenz ihres Gesangs ähnlich wie bei den Vögeln am Bach etwas höher liegen als der Dauerlärm der Umgebung. 

Allerdings zeichnete sich in den letzten Jahren ab, dass die Vögel vorab lauter singen, um weiter hörbar zu sein. Als Nebeneffekt wird der Gesang dadurch auch etwas höher. Auch von Menschen kennt man dieses Verhalten. Der sogenannte Lombard-Effekt zeigt sich etwa, wenn man sich bei einer Feier unterhält. Ohne dass es einem bewusst sein muss, spricht man je nach Hintergrundlärm lauter und ändert dabei auch leicht seine Stimme. Unter anderem wird eine laut rufende Stimme etwas höher klingen als bei normalem Gespräch. 

Die Anpassung der Lautstärke ist laut Studien rund fünfmal wirkungsvoller als eine reine Erhöhung der Frequenz um 100 oder 200 Hertz. Im vorhin erwähnten Beispiel der Amsel, die in einer lauten Stadt nur bis zu 35 Meter gehört werden kann, erhöht sie die Reichweite auf bis zu 50 Meter, wenn sie fast doppelt so laut singt.

Die Sänger wollen gehört werden

Neben der Erhöhung der Lautstärke passen Vögel auch unter natürlichen Bedingungen ihr Verhalten an, um ihren Gesang bestmöglich in die Welt zu tragen und vom Empfänger gut gehört zu werden. Bei Schilfrohrsängern hat sich zum Beispiel gezeigt, dass sie ihren Gesang normalerweise durch Drehen des Kopfes in alle Richtungen aussenden. Wenn sie hingegen einen möglichen Konkurrenten ausgemacht haben, singen sie vor allem in seine Richtung.

In der Stadt singen Nachtigallen fünfmal lauter als auf dem Land.

Die unscheinbare Nachtigall wiederum ist bekannt dafür, dass sie auch nachts sehr viel singt. Dies tun vor allem unverpaarte Männchen, da zu dieser Zeit die Weibchen umherstreifen und sich einen Partner anhand dessen Gesangskünsten suchen. Mit bis über 180 verschiedenen Strophen kann ein Männchen ein grosses Repertoire aufweisen.

Vielleicht haben Nachtigallen die stille nächtliche Nische besetzt, damit das Weibchen die feinsten Details heraushören kann. Nachtigallen, die schon verpaart sind, singen nur noch morgens oder am Vormittag. In Berlin sind Nachtigallen auch an vielen Stellen in der Stadt zu finden. Dort kämpfen sie dann gegen Strassen- oder S-Bahnlärm an. Das bildet sich auch in ihrem Gesang ab: Stadtnachtigallen singen mit bis zu 14 Dezibel gut fünfmal lauter als Nachtigallen in ruhigen Lagen. Aber sie machen dies nur, wenn es sein muss; an Wochenenden, wenn der Berufsverkehr fehlt, singen sie gemäss Studien deutlich leiser.

Zeitliche Anpassungen finden sich auch über mehrere Arten hinweg. So beginnt das Vogelkonzert am Morgen in der Nähe eines Flughafens etwas früher als in einer Vergleichsfläche ohne Lärm. Spannend daran ist, dass die Vögel mit dem Gesang beginnen, bevor der Lärm einsetzt. Sie versuchen also vermutlich vorausschauend, mehr von der ruhigen Zeit für ihren Gesang zu nutzen. 

Wenn dann die Flugzeuge im Minutentakt starten und landen, lässt sich beim Buchfink eine weitere Anpassung beobachten: Erreicht der Lärm eine bestimmte Schwelle, singt er nicht mehr und wartet, bis es wieder ruhiger wird.

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Die Wasseramsel singt auf relativ hoher Frequenz und wird damit trotz lautem Wasserrauschen gehört. Ähnlich machen es Kohlmeisen in der Stadt: Sie singen höher als ihre Artgenossen auf dem Land – wohl ebenfalls, um am Lärm vorbeizusingen. © Marcel Burkhardt, Ralph Martin

Der Lockdown brachte Ruhe

Im Frühling 2020 konnte vielerorts nachempfunden werden, wie ruhig es vielleicht zuletzt in den 1950er-Jahren war. Durch den Lockdown kam der Flugverkehr fast ganz zum Erliegen, und auch der Strassenlärm war in vielen Ländern stark reduziert. In der Natur waren deutliche Reaktionen auf die verminderte menschliche Aktivität zu beobachten. Dachsammern aus Nordamerika sangen an ehemals lauten Plätzen wieder deutlich leiser, konnten wieder mehr komplexe Gesangsteile nutzen und hatten eine mehr als doppelt so hohe Kommunikationsreichweite. Eine andere Studie in Nordamerika zeigt, dass viele Vogelarten wieder häufiger in städtischen Gebieten beobachtet werden konnten als zuvor.

Lärm verringert die Fitness

Lärm beeinflusst die individuelle Fitness eines Vogels. Sein Territorium geht nur so weit, wie er gehört wird, und verkleinert sich bei Lärm. Folglich schrumpft auch sein Jagdgebiet, und er findet womöglich weniger Nahrung zur Jungenaufzucht. 

Eltern hören das Betteln der Jungvögel schlechter und füttern dadurch weniger, wie Studien zeigen. All diese individuellen Faktoren können sich letztlich auf Populationsebene auswirken. Lärmvermeidung bekommt dadurch eine Naturschutzrelevanz. BirdLife Schweiz begrüsst deshalb den Vorschlag der Eidgenössischen Kommission für Lärmbekämpfung vom Dezember 2021. Die Kommission empfiehlt, die Grenzwerte für Strassen-, Eisenbahn- und Fluglärm so anzupassen, dass sie den Anforderungen des Umweltschutzgesetzes genügen. Damit soll die Bevölkerung besser vor Lärm geschützt werden. Inwieweit dies auch für die Vögel eine Verbesserung bringt, wird sich zeigen.

Auch wenn die Lärmbelastung in ihrer Auswirkung auf die Vielfalt der Natur im Vergleich zu anderen Faktoren weniger gravierend ist, so bedeutet sie doch für jedes Lebewesen eine Beeinträchtigung, sei es im Verhalten, auf physiologischer Ebene oder nur schon beim Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. 

Schon der Nobelpreisträger und Tuberkulose-Entdecker Robert Koch soll vor über 100 Jahren gesagt haben: «Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest».

Dr. Stefan Greif arbeitet als Projektleiter Artenförderung bei BirdLife Schweiz.

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