Sorgenkind Pestizide

Probleme noch nicht gelöst. Die schweizerische Pflanzenschutzmittelverordnung schreibt vor, dass unannehmbare Umwelt- und Gesundheitsschäden, die durch den Einsatz von Pestiziden verursacht werden, zu verhindern sind. Längst erfüllt? Mitnichten. Neue Studien zeigen, wie stark unsere Gewässer durch Pestizide belastet sind, die zum Grossteil aus der Landwirtschaft stammen.


«Silent Spring» (Stummer Frühling) hiess das 1962 erschienene Buch von Rachel Carson, das die Probleme des verbreiteten Pestizideinsatzes aufzeigte, den sorglosen Umgang kritisierte und für ein Umdenken plädierte. Heute sind die meisten Pestizide, die damals verheerende Schäden an Umwelt und Mensch verursachten, in weiten Teilen der Welt verboten. Die Schweiz gehörte 1972 zu den ersten Ländern Europas, die die Verwendung von DDT untersagten. 

Gemäss heutiger Pflanzenschutzmittelverordnung sind unannehmbare Umwelt- und Gesundheitsschäden zu verhindern, die durch den Einsatz von Pestiziden entstehen. Doch mehr und mehr zeigt sich, dass die Probleme im Zusammenhang mit Pestiziden noch längst nicht gelöst sind.

Pestizidcocktail in unseren Flüssen 


Im März 2014 gab die Eawag, das Wasserforschungsinstitut der ETH, erschreckende Resultate von Untersuchungen zu Pestiziden in Schweizer Gewässern bekannt. Die Forscher fanden in fünf typischen Flüssen des Mittellandes 104 von rund 300 zugelassenen und erfassbaren Wirkstoffen. Jede Probe enthielt im Schnitt 40 unterschiedliche Stoffe. Bei 78 Prozent der Proben lag die Konzentration bei über einem Mikrogramm pro Liter (µg/L); der gesetzliche Grenzwert für Einzelstoffe liegt bei 0,1 µg/L, einem Zehntel davon. Die Ergebnisse zeigten zudem, dass ein Grossteil der Pestizidbelastung dem Einsatz in der Landwirtschaft zuzuschreiben ist.
Eine weitere Studie aus der Schweiz wies zwischen 2005 und 2012 bei 70 Prozent von 565 untersuchten Standorten und bei 98 der 162 nachgewiesenen Pestizide eine Konzentration über dem gesetzlichen Anforderungswert von 0,1 µg/L nach. Am stärksten betroffen waren kleine Gewässer, die den Grossteil der Schweizer Fliessgewässer ausmachen.

Die hohen Pestizidkonzentrationen sind das eine – ihre Wirkung auf Arten und Ökosysteme das andere. Wie eine Untersuchung in europäischen Gewässern zeigte, ist die Artenvielfalt in pestizidbelasteten Gewässern nur noch gut halb so gross wie in unbelasteten Gewässern – und zwar bereits bei Konzentrationen, die gemäss europäischen Vorschriften als unbedenklich gelten. Eine Meta-Analyse von acht Studien aus verschiedenen Ländern Europas brachte zudem zutage, dass das Vorkommen empfindlicher Organismen in Gewässern bei Pestizidkonzentrationen, die laut Standardzulassungsverfahren unbedenklich sind, um bis zu 61 Prozent reduziert wurde. Die Zulassungsverfahren in der Schweiz sind weitgehend mit denen in der EU harmonisiert. 

Direkte und indirekte Wirkungen


Pestizide wirken nicht nur direkt, sondern auch indirekt. So werden etwa Vogelarten wie Grauammer, Feldlerche, Goldammer und Rebhuhn durch die indirekten Folgen des Pestizideinsatzes nachweislich beeinträchtigt, da sie für die Aufzucht der Jungen auf ein reiches Insektenangebot im Bruthabitat angewiesen sind. In Frankreich hat sich gezeigt, dass Gelegegrösse und Überlebensrate der Flügglinge von Mehlschwalben in Gebieten, die mit Insektiziden behandelt worden waren, signifikant tiefer waren als in Gebieten ohne Insektizid-Anwedungen. Neben Insektiziden haben auch Fungizide und Herbizide eine indirekte Wirkung auf Vögel. Herbizide reduzieren die Ackerbegleitflora, doch wird damit auch die darauf lebende Insektenvielfalt eliminiert. Fungizide ermöglichen eine sehr dichte Bepflanzung der Feldfrüchte. Dies reduziert einerseits die Ackerbegleitflora; zum andern können Vögel wie Feldlerche oder Rebhuhn einen so dichten Bestand gar nicht mehr als Lebensraum nutzen.

Problemfall Neonicotinoide


Besondere Probleme bereiten zurzeit die Neonicotinoide. Dabei handelt es sich um synthetisch hergestellte Insektizide, die sich an Nervenzellen binden und so die Weiterleitung von Nervenreizen dauerhaft stören. Sie verbreiten sich über die Wurzeln in der ganzen behandelten Pflanze, was diese einschliesslich ihrer Blüten über längere Zeit giftig macht. Neonicotinoide sind rund tausendmal giftiger als DDT.

Die europäische Kommission anerkennt inzwischen, dass die Pestizidprüfung im Fall der Neonicotinoide die Auswirkungen auf Honigbienen nicht vorhersehen kann und folglich keine Sicherheit bietet. Noch weniger gut untersucht sind die Effekte auf die für die Bestäubung äusserst wichtigen Wildbienen. Im Frühling 2013 haben die EU und später auch die Schweiz die Zulassungen für einige Neonicotinoide teilweise suspendiert. 

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Wildbienen wie die Zweifarbige Sandbiene (Andrena bicolor) sind wichtige Bestäuber. Wie stark sie direkt und indirekt durch Pestizide beeinträchtigt sind, ist noch weitgehend unbekannt. © Albert Krebs

Die Risikobeurteilung der Pestizide ist eine Schlüsselstelle im ganzen Prozess. Die heutigen Zulassungsverfahren machen hier ganz klar zu schwache Vorgaben. Einerseits werden ganze Artengruppen wie zum Beispiel Amphibien bei der Risikobeurteilung gar nicht berücksichtigt. Damit entsteht der Eindruck, die Pestizide hätten keine Wirkung auf diese Artengruppe. Tatsächlich zeigen Untersuchungen an Amphibien aber, dass Beeinträchtigungen ganzer Populationen durch Pestizide zu befürchten sind. Noch weniger bekannt sind die Auswirkungen des Pestizidcocktails auf die Bodenlebewesen. Dies ist umso bedenklicher, da der Boden die Grundlage für viele Lebensprozesse und die Lebensmittelproduktion darstellt. Und schliesslich werden bei den Risikobeurteilungen überhaupt keine indirekten Auswirkungen berücksichtigt. 

Dass der verbreitete Pestizideinsatz weitere grosse Risiken birgt, zeigt die Meldung vom Februar 2014, als Agroscope-Experten bei einem Raygras erstmalig in der Schweiz eine Resistenz gegen das Herbizid Glyphosat (Roundup) bestätigten. Das resistente Gras wurde in einem Weinberg im Waadtland gefunden. Eine Empfehlung zur Vorbeugung und Bekämpfung solcher Resistenzen ist der Einsatz einer möglichst breiten Palette an Pestiziden. Dadurch hängt die Landwirtschaft und damit unsere Ernährung jedoch immer stärker am Tropf der Pestizidindustrie. Umso wichtiger ist die Nutzung bereits funktionierender Alternativen und der Einsatz von deutlich mehr finanziellen Mitteln für die Erforschung und Verbreitung von alternativen Pflanzenschutzmethoden. 

In vielen Fällen ungeklärt sind die gesundheitsschädigenden Wirkungen von Pestiziden auf den Menschen. Die Beispiele machen aber deutlich: Der verbreitete Pestizideinsatz verursacht grosse Umwelt- und Gesundheitsschäden und beeinträchtigt essentielle Ökosystemleistungen. Dem Grundsatz in der Pflanzenschutzmittelverordnung wird also sicherlich nicht Rechnung getragen. 

Die Politik reagiert nur langsam


2009 verordnete sich die EU selbst eine Reduktion des Pestizideinsatzes. In den meisten EU-Mitgliedstaaten liegen nun nationale Aktionspläne zur Pestizidreduktion vor. In der Schweiz hingegen geschah bisher sehr wenig. Erst nachdem die Probleme in der Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit erlangten und verschiedene politische Vorstösse auf dem Tisch lagen, prüfte der Bundesrat die Notwendigkeit eines nationalen Aktionsplans für die Pestizide. 

Im Hinblick auf einen solchen Aktionsplan legten die Umweltverbände bereits im November 2013 dem Bundesrat eine Anleitung zur Pestizidreduktion vor (siehe Kasten). Nun zeigte eine von den Umweltverbänden in Auftrag gegebene Pilotstudie, dass erhebliche Teile der durch Pestizideinsatz verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden von der Allgemeinheit getragen werden. Der SVS/BirdLife Schweiz, Greenpeace, ProNatura und WWF fordern deshalb Kostenwahrheit und einen ambitionierten Plan zur Reduktion des Pestizideinsatzes in der Schweiz.

Um in der Schweiz und in Europa die Biodiversität und die biodiversitätsgebundenen Ökosystemfunktionen wie die biologische Schädlingsbekämpfung zu erhalten, muss ein Wechsel hin zu einem minimalen Pestizideinsatz erfolgen. 

 

Pascal König ist beim SVS/BirdLife Schweiz als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich Landwirtschaft zuständig.

 

Weniger Pestizide in der Schweiz: Der Plan der Umweltverbände


Bereits im November 2013 legten SVS/BirdLife Schweiz, Greenpeace, Pro Natura und WWF dem Bundesrat neun Forderungen vor. Die drei Kernforderungen sind:
■ ambitionierte und messbare Reduktionsziele;
■ Verbot von besonders umwelt- und gesundheitsgefährdenden Pestiziden;
■ mehr Forschung, Beratung und Anreize für den Einsatz von alternativen Pflanzenschutzmethoden.

Der Forderungskatalog steht unter www.birdlife.ch/sites/default/files/documents/broschuere_pestizide_DE.pdf zum Download zur Verfügung.

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