Nächtliche Suche nach dem König der Wiesen

Artenförderungsprogramm Wachtelkönig. Seit 1996 sucht der SVS/BirdLife Schweiz zusammen mit Freiwilligen und Wildhütern zur Brutzeit rufende Wachtelkönige, um sie vor den Mähmaschinen zu schützen. Der Aufwand ist gross – doch die Freude ist noch viel grösser, wenn es gelingt, Verträge auszuhandeln und die Nester und Jungvögel der seltenen Art zu retten.


Es knirscht laut, als ich um Mitternacht den Kiesweg entlang marschiere. Über mir funkelt die Milchstrasse. Halten, horchen, alles still. Einige Schritte gehen und wieder halten, horchen. Und dann dringt von weit unten am Hang das lang gesuchte «rrrep rrrep» durch die Nacht. Der zweisilbige Ruf, der klingt, als würde man mit einem Fingernagel über einen Kamm fahren, verrät die Anwesenheit eines Wachtelkönig-Männchens. 

Die Suche nach dem genauen Standort des Vogels führt mich hangabwärts durch die laue Juninacht. Ich trage nur ein T-Shirt – sogar hier oben auf über 1500 m ü.M. bei Lumbrein im Val Lumnezia GR ist es mit einem Pullover mitten in der Nacht zu warm. Das hügelige Gelände und der Widerhall des Rufes an den Gebäuden spielen mir einige Streiche und es dauert eine Weile, bis ich den genauen Rufplatz des Wachtelkönigs ausfindig mache. Der Wiesenvogel ruft über einen halben Kilometer unterhalb der Stelle, an welcher ich ihn zuerst gehört habe. Endlich kann ich die Koordinaten und die Uhrzeit notieren. 

Bis zu einem Kilometer weit ist der Ruf des Wachtelkönig-Männchens im Idealfall hörbar. Das nächtliche Werben um ein Weibchen, das die Menschen vor einigen Jahrzehnten noch um den Schlaf brachte, ist jedoch heute in der Schweiz nur noch sehr selten zu vernehmen. Deshalb hat der SVS/BirdLife Schweiz 1996 ein Artenförderungsprogramm gestartet. In jedem Sommer suchen Angestellte des SVS/BirdLife Schweiz, aber auch viele Ehrenamtliche und Wildhüter systematisch nach dem Wiesenbrüter, um ihn zu schützen und zu fördern. Auch ich bin im Rahmen des Projekts während der ganzen Saison im Feld unterwegs.

Wenn ein Wachtelkönig während fünf Nächten seinem Rufstandort treu bleibt, ist davon auszugehen, dass er in der entsprechenden Wiese brüten möchte. In diesem Fall macht der SVS/BirdLife Schweiz den Bewirtschafter der Parzelle ausfindig, um mit ihm einen Mahdaufschub für die Fläche rund um den Rufplatz des Wachtelkönigs zu vereinbaren. Nur so bleibt dem Wiesenbrüter genügend Zeit, die Jungen aufzuziehen, bevor die Mähmaschine auffährt.

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Die SVS-Mitarbeiterin Camilla Jenny sucht das Engadin nach rufenden Wachtelkönigen ab. © Stefan Bachmann/BirdLife Schweiz

Verhandlungen mit dem Bauern

In den folgenden Nächten wird der Wachtelkönig in Lumbrein von einem Wildhüter und einem Ornithologen beobachtet. Tatsächlich bleibt das Tier über fünf Nächte am selben Ort. Kann ich den Landwirt überzeugen, eine Hektare Wiesland ungemäht stehen zu lassen? Bereits am Telefon stellt der Landwirt klar, dass er mit den Schutzmassnahmen nicht einverstanden ist. Die Entschädigung durch den Kanton decke den verlorenen Heuertrag für die ertragreiche Wiese nicht. Ein Vertrag ist also leider nicht möglich – der anwesende Wachtelkönig wird wohl nicht erfolgreich brüten können.

So ergeht es heute einem Grossteil der Wachtelkönige in Westeuropa. Der Zugvogel erreicht Europa von seinem Überwinterungsquartier in Ostafrika zwischen April und Juni, um in deckungsreichen Wiesen zu brüten. Die frühe und grossflächige Mahd zerstört das Bruthabitat in jeder Saison innert weniger Tage, so dass fast alle Nester und Jungvögel dem Mäher zum Opfer fallen. 

Überlebende Vögel finden kaum Ausweichmöglichkeiten. Aus­ser­dem hat das Angebot an Gliedertieren, die Hauptnahrungsquelle des Wachtelkönigs, durch die intensive Düngung und den Pestizideinsatz stark abgenommen. Auch wird das Kulturland immer mehr ausgeräumt, um eine effizientere Bewirtschaftung mit grossen Maschinen zu ermöglichen. Dadurch gehen Kleinstrukturen wie Gebüsche verloren, die dem Wachtelkönig wichtige Deckung vor und nach der Brutzeit bieten. 1996 hat der Europarat deshalb einen Aktionsplan auf europäischer Ebene lanciert, wo­rauf der SVS/BirdLife Schweiz ein Pilotprojekt startete. Seit 1999 läuft das eigentliche Förderungsprogramm. 

Begegnungen in der Dunkelheit

Meine Suche nach Wachtelkönigen geht weiter. Abend für Abend steige ich ins Auto und fahre zu den aus den letzten Jahren bekannten Rufplätzen. In dieser nächtlichen Welt ohne Farben und mit Sicht auf weniger als zehn Meter Distanz bekommen die Geräusche eine ganz neue Bedeutung. Neben Wachtelkönig-Funden gibt es Begegnungen mit anderen Tieren. Regelmässige Begleiter sind die Rehe, die mich fast nächtlich aus geringer Distanz anbellen, laut und unsichtbar. Das eine oder andere Mal erschrecke ich einen Feldhasen – oder er mich. Ganz auf meinen Hörsinn konzentriert, kommt sogar das Leuchten eines Glühwürmchens einer visuellen Reizüberflutung gleich. 

Immer wieder durchbreche ich die Stille durch Abspielen des Wachtelkönigrufs. Männchen, die nicht spontan ihr «rrrep rrrep» verlauten lassen, sollen auf den Ruf ab Konserve antworten. 

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Der Wachtelkönig ist nur sehr selten so gut zu sehen. Viel eher hört man seine charakteristischen Rufe in der Nacht. © Lionel Maumary
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Die Küken sind in den ersten Tagen schwarz bedunt. Als Nestflüchter folgen sie vom ersten Tag an ihrer Mutter. Erst nach etwa fünf Wochen sind sie flugfähig. © SOS/BirdLife Slovensko

Der Tag erwacht

Die Nächte sind kurz um die Zeit der Sommersonnenwende, und bereits ab vier Uhr kündigt sich, zuerst kaum merklich, der Morgen an. Da und dort erklingt ein vereinzeltes Zwitschern der Feldlerche, die Dunkelheit ist nun nicht mehr so undurchdringlich. Und dann bringt der Tag die Farben zurück. Wie ein Feuerwerk erwacht die Welt, das Vogelkonzert steigert sich innert weniger Minuten von piano zu forte und die Sinne werden kurzfristig über die Müdigkeit hinweggetäuscht. 

Während die Welt erwacht und der Wachtelkönig verstummt, gehe ich in der temporären Mietwohnung in Scuol ins Bett. Doch nicht für lange. Mittlerweile sind einige Wachtelkönige in Graubünden angekommen und es gibt zu tun. Für die nächsten Tage ist gutes Wetter angesagt, die Zeit wird knapp. Die Bedingungen sind ideal, um das Heu einzuholen – die Brutplätze der eingetroffenen Wachtelkönige sind in Gefahr. 

Ein Treffen mit einem Landwirt in S-chanf steht an. Der Wachtelkönig auf seiner Wiese ruft bereits seit mehreren Nächten. Gelingt es heute, für den ersten Vogel der Saison eine Schutzmassnahme zu ergreifen? Nach einigem Überlegen stimmt der Landwirt schliesslich zu. Mein erster Vertrag kommt zustande. Ende Jahr wird dem Landwirt der Ertragsverlust durch das Amt für Natur und Umwelt des Kantons Graubünden ausgezahlt werden.

Erst nach zwei Monaten flugfähig

Kann das Wachtelkönig-Männchen ein Weibchen für den Brutplatz in S-chanf begeistern, beginnt der Nestbau. Während der Brutzeit bekommt man den geheimnisvollen Vogel kaum zu Gesicht. Im Schutz des hohen Grases legt das Weibchen 7 bis 12 Eier in ein bescheidenes Nest aus ungeordneten Halmen, ein Ei pro Tag. Nach gut zwei Wochen Bebrüten schlüpfen die Dunenküken. 

Als Nestflüchter suchen die Jungvögel ihre Nahrung von Beginn an selbst; anfangs werden sie noch von der Mutter begleitet. Erst etwa zwei Monate nach Beginn des Nestbaus sind die Jungvögel flugfähig, worauf sie selbstständig in ihr Überwinterungsquartier ziehen. Ihre Mutter hat sie dann längst verlassen.

Entscheidend für die Jungenaufzucht ist es, dass sich die Wachtelkönige die ganze Zeit über im hohen Gras aufhalten und verstecken können. In der Schweiz sind solche Wiesen nur noch in wenigen Schutzgebieten zu finden – und dort, wo der SVS/BirdLife Schweiz einen Mahdaufschub erreichen kann.

Schwierige Suche nach den Küken

In S-chanf haben die Jungvögel Glück: Dank des Vertrags mit dem Bauern haben sie auf einer hektarengrossen Fläche genügend Zeit, heranzuwachsen. Zwar wird das rufende Männchen nur noch einige wenige Nächte gehört – dies darf jedoch als gutes Zeichen gedeutet werden: Hat sich ein Weibchen in der Wiese niedergelassen, gibt es für das Männchen keine Notwendigkeit mehr, um eine Dame zu werben. 

Sogar auf das Abspielen des Rufes reagieren manche Männchen bald nicht mehr. Sind die Eier gelegt, so ist die Aufgabe des Wachtelkönig-Männchens erfüllt. Oft zieht es weiter, vielleicht findet es noch anderswo sein Glück. Während dieser Zeit tappen wir im Dunkeln: Nur mit etwas Glück können Sichtbeobachtungen von Jungtieren bei der Mahd eine Brut bestätigen.

Die Bilanz der Saison 2015: Insgesamt fanden wir 51 rufende Wachtelkönige in der Schweiz, davon 33 im Kanton Graubünden. Bei 19 Tieren handelte es sich wohl nur um Durchzügler, sie wurden nur eine oder wenige Nächte lang gehört. Für 11 statio­näre Tiere im Kanton Graubünden und für je ein Tier in den Kantonen Wallis und Waadt konnten wir einen Mahdaufschub erreichen. Schweiz­weit wissen wir in sechs Fällen von sicheren Bruten, für acht weitere Tiere ist eine Brut wahrscheinlich oder möglich.

Camilla Jenny ist Biologin und war von Mai bis August 2015 Praktikantin beim SVS-Artenförderungsprogramm Wachtelkönig.

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