Über 140 Landwirte setzen sich in Zusammenarbeit mit BirdLife Schweiz und Ficedula für die Artenförderung in der Landwirtschaft ein. © BirdLife Schweiz
Es war 2004, als das Wiedehopf-Projekt von BirdLife Schweiz und seiner Landesorganisation Ficedula im Tessin zum ersten Mal in Ornis erwähnt wurde. Nachdem BirdLife ab 1979 mehrere erfolgreiche Kampagnen für die ganze Schweiz entwickelt hatte, rückte das Tessin um die Jahrtausendwende immer mehr in den Fokus. Auch südlich der Alpen veränderte sich die Landwirtschaft stark; es musste etwas für die Arten der traditionellen Kulturlandschaft getan werden.
Die beiden Verbände starteten also ein erstes Projekt. Als Symbol wählten sie den Wiedehopf, eine attraktive und beliebte Vogelart. Sie wurde zum Schlüssel für die Einbindung der Landwirtinnen und Landwirte in die Artenförderung.
In jenen Jahren war erstmals die Rede von «prioritären Arten». Noch war das Misstrauen der Landwirte bezüglich einer Zusammenarbeit zum Schutz der Vogelwelt gross. Seither hat die kontinuierliche Arbeit eine starke Vertrauensbasis geschaffen. BirdLife Schweiz und Ficedula befassen sich nicht mehr nur mit dem Wiedehopf, sondern nahmen sich vieler anderer Arten an, die typisch sind für das Landwirtschaftsgebiet.
Eine Art nach der anderen
Die zweite Art, die als Aushängeschild gewählt wurde, war der Steinkauz. Mit der kleinen Eule hatte sich Ficedula bereits in den 1980er-Jahren beschäftigt. Im Gegensatz zum Wiedehopf stiess diese Art aber nicht sofort auf Gegenliebe. Noch existierte viel Aberglauben um den kleinen nachtaktiven Räuber mit den grossen gelben Augen; manche hielten ihn gar für einen Unglücksbringer. Zur gleichen Zeit begann der Einsatz für den Ziegenmelker. Er ist an landwirtschaftlich genutzte Hanglagen und ausgedehnte Wiesen gebunden, die reich an Nachtfaltern sind.
Neben diesen Arten kümmern sich das BirdLife-Team in der italienischen Schweiz und Ficedula derzeit auch um Turteltaube, Zwergohreule, Wendehals, Neuntöter, Gartenrotschwanz und Zaunammer. Mehr als 140 Landwirte beteiligten sich bereits an den Projekten, die vom Mendrisiotto bis zur Magadino-Ebene, von Lugano bis zum Bleniotal, von Capriasca bis zur Riviera reichen.
Die beharrliche Teilnahme an landwirtschaftlichen Veranstaltungen, die Organisation dutzender Anlässe und die häufige Präsenz in der Presse, im Radio und Fernsehen haben es im Lauf der Jahre ermöglicht, das Bewusstsein für die gefährdeten Arten im Tessin zu schärfen. Dabei haben BirdLife und Ficedula neben den ausgebildeten Landwirtinnen und Landwirten schon früh auch die jüngeren Generationen angesprochen. Um sie zu sensibilisieren, arbeiten die beiden Organisationen seit über 15 Jahren mit der Landwirtschaftsschule von Mezzana zusammen. Dieses kantonale Institut bildet sowohl die neuen Berufsleute in der Landwirtschaft als auch Winzer, Försterinnen und Gärtner aus.
Forschung und Monitoring
Von den Projekten profitieren nicht nur die Vögel, sondern u. a.auch der Kanton, Gemeinden oder Umweltberatungsbüros. Die Projekte entwickeln sich laufend weiter, sowohl hinsichtlich wirkungsvoller Massnahmen als auch bezüglich Forschung und Monitoring; beides ist für die Entwicklung optimaler Erhaltungsstrategien unerlässlich. So haben BirdLife und Ficedula in den letzten Jahren regelmässig Maturaarbeiten sowie Bachelor- und Masterstudiengänge an Schweizer und italienischen Universitäten betreut.
Doch was haben nun die Bemühungen von BirdLife Schweiz und Ficedula den Vögeln im Tessin konkret gebracht? Nachfolgend eine kleine Zusammenfassung.
Steinkauz. © BirdLife Schweiz
Steinkauz
Der Bestand des Steinkauzes hat sich von nur noch vier Paaren im Jahr 2004 auf 24 Paare im 2021 erhöht – ein Erfolg, der ohne die vielen Schutzmassnahmen unvorstellbar wäre. Diese bestehen zum Beispiel im Schutz von Brutplätzen an Gebäuden und der Installation von vielen Nistkästen und Sitzwarten. Zudem pflanzten BirdLife und Ficedula 500 Hochstammbäume und 6000 Sträucher (siehe Ornis 5/21).
Ab 2019 installierte Ficedula mehrere Webcams in den Nestern des Steinkauzes (siehe www.ficedula.ch/birdcam-civetta-2022). Damit konnten und können zahlreiche Menschen die Entwicklung der Bruten live verfolgen. Der grosse Publikumserfolg fand weit über die Grenzen des Tessins hinaus Beachtung. Die Daten über die Ökologie des Steinkauzes, insbesondere dessen Nahrung, fliessen in die Projekte ein.
Derzeit erarbeiten BirdLife und Ficedula im Auftrag des Amtes für Natur und Landschaft des Kantons einen Aktionsplan für den Steinkauz. Dieser soll prioritäre Gebiete enthalten sowie ein Inventar aller Gebäude, welche für die kleine Eule wichtig sind. Dank der akribischen Sammlung von Informationen über die Kulturen, die in den Bolle di Magadino angebaut werden, wird es zudem möglich sein, das potenzielle Verbreitungsmodell dieser und anderer Arten wie der Zwergohreule zu aktualisieren. Dank des Aktionsplans können die Arten zukünftig noch besser gefördert werden.
Turteltaube. © Ruedi Aeschlimann
Turteltaube
Seit 2019 wird die Verbreitung der Turteltaube durch gezielte Erhebungen erfasst. Leider ist auch im Tessin wie im Rest des Landes ein negativer Trend zu beobachten. Derzeit ist die Art nur noch in der Magadinoebene anzutreffen. 2021 umfasste die Population 25 Reviere; in den Vorjahren waren es noch etwa 30 gewesen. Nun versuchen BirdLife und Ficedula, den Grund für den Rückgang zumindest auf regionaler Ebene zu verstehen und konkrete Erhaltungsmassnahmen zu entwickeln. Sie experimentieren etwa mit Krautsäumen mit speziellen Pflanzenarten, um die Nahrungsgrundlage für die Turteltaube zu verbessern.
Zaunammer. © Mathias Schäf
Zaunammer
Im Jahr 2017 begannen die beiden Organisationen, sich aktiv mit der Zaunammer zu beschäftigen. Sie konnten sich dabei auf die Ergebnisse einer Bachelorarbeit der Universität Mailand (I) stützen. Diese Studie umfasste u. a. eine Zählung der gesamten Zaunammerpopulation in Weinbergen von mindestens einer Hektare im Mendrisiotto. Analysen der Landnutzung, der Anzahl der vorhandenen Bäume und Sträucher und anderer geomorphologischer Variablen ermöglichten es, relevante Faktoren für die Wahl der Nisthabitate aufzuzeigen. Sie ergaben, dass das Vorkommen der Zaunammer positiv korreliert ist mit der Anzahl der vorhandenen Bäume und Sträucher wie auch den grossen Grünland- und Rebflächen. Auch die Lage und Steilheit der Weinberge scheinen eine wichtige Rolle zu spielen.
Auf Grundlage der Ergebnisse konnten BirdLife und Ficedula den Winzerinnen und Winzern Bewirtschaftungsmassnahmen vorschlagen, welche das Vorkommen der Art fördern. Die beteiligten Landwirte setzen diese Massnahmen, die auch andere Arten begünstigen können, nun in den Weinbergen um.
Ziegenmelker. © Mathias Schäf
Ziegenmelker
Der Ziegenmelkerbestand wird seit 2005 überwacht. Um den Lebensraum der Nachtschwalbe, wie die Art auch genannt wird, aufzuwerten, wurden in den letzten Wintern mehrere forstwirtschaftliche Eingriffe durchgeführt. Der wichtigste fand Ende des Winters 2021/22 statt und bestand in der Ausweitung der Durchforstung in Alta Capriasca nördlich von Lugano. Sie führte zur Öffnung von insgesamt zwei Hektaren Wald. Ein weiterer Eingriff erfolgte im Locarnese.
2021 wurde eine Bachelorarbeit über den Ziegenmelker und Bioakustik mit modernen akustischen Überwachungsgeräten realisiert. Daraus ergaben sich neue Erkenntnisse zur Verbreitung des Ziegenmelkers in der italienischen Schweiz: Unter anderem förderte die Studie fünf neue Standorte in unzugänglichen Gebieten zutage, die bisher nicht untersucht werden konnten. Im Frühling 2022 wurden die Ergebnisse an der Konferenz des European Bird Census Council (EBCC) in Luzern vorgestellt und damit auch auf europäischer Ebene bekanntgemacht.
Zwergohreule. © Hans Glader
Zwergohreule
BirdLife Schweiz begann bereits in den 1990er-Jahren mit der Förderung der Zwergohreule. Auslöser war die Wiederentdeckung der Art in den Bolle di Magadino durch Werner Müller, damals Geschäftsführer von BirdLife Schweiz. BirdLife brachte danach an verschiedenen Orten im Tessin Nistkästen an.
Derzeit läuft nun eine Masterarbeit mit dem Ziel, das Wissen über Verbreitung und Ernährungsgewohnheiten der Zwergohreule zu erweitern. Diese neuen Informationen werden es ermöglichen, die Lebensraumansprüche der Art in der Region besser zu verstehen und gezielte, wirksame Massnahmen zu ihrem Schutz durchzuführen. Zudem organisieren BirdLife und Ficedula Aktivitäten für die breite Öffentlichkeit wie etwa die «Nacht der Zwergohreule». An dieser Abendveranstaltung geht es zusammen mit Freiwilligen in der Magadinoebene auf die Suche nach Eulen. Da die Zwergohreule dank ihrer Rufe unverwechselbar ist (die ähnlich rufende Geburtshelferkröte kommt hier nicht vor), kann sich auch die Bevölkerung beteiligen. Diese ist angehalten, Berichte mit Fotos und Tonaufnahmen einzureichen. So erhalten die Organisationen einen besseren Überblick über die Verbreitung der Art. Dasselbe organisieren sie regelmässig auch für Wiedehopf und andere Arten.
Das Bewusstsein ändert sich
Das vielleicht wichtigste Ergebnis der Projekte im Tessin ist eines, das auch am schwierigsten zu quantifizieren ist: der Wandel in der Denkweise und im Bewusstsein der vielen Landwirte, die sich heute für den Schutz und die Förderung der biologischen Vielfalt auf ihren Flächen einsetzen. In diese Richtung wollen BirdLife und Ficedula auch in Zukunft weiterarbeiten.
Dr. Chiara Scandolara ist die Verantwortliche für Artenförderung für BirdLife Schweiz im Tessin. Bei Ficedula ist sie für die gleichnamige Zeitschrift zuständig.
Ein grosser Dank geht an alle beteiligten Landwirte, Winzerinnen und Privatpersonen. Das Artenförderungsprogramm ist nur möglich dank zahlreicher Finanzgeber, insbesondere dem Amt für Natur und Landschaft des Kantons Tessin, dem Fonds Landschaft Schweiz und weiteren Stiftungen.
■ Landwirte und Winzer, mit denen wir zusammenarbeiten: 142
■ Neue Nistkästen für Steinkauz, Zwergohreule, Wiedehopf,
Gartenrotschwanz und Wendehals: 430
■ Neue Wiedehopf-Nisthöhlen in Trockenmauern: 53
■ Neue Trockensteinmauern: 190 Laufmeter
■ Gepflanzte Hochstammbäume: 733
■ Gepflanzte Sträucher: über 6000
■ Neue Strukturen für Kleintiere: 91
■ Neu aufgestellte Sitzstangen: 133
■ Angelegte Blühstreifen: 7
■ Mosaikmähen mit dem Balkenmäher: 25 ha
■ Ausgelichteter Wald für den Ziegenmelker: 7 ha
Hinweis: Einige Daten wurden erst ab 2015 erhoben.
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