Auf nährstoffarmen Wiesen wachsen Orchideen wie dieses Brand-Knabenkraut. © Beat Wartmann
Der Schweiz gehen die Farben aus. Rot, Blau und Violett schwinden zusehends aus den Landschaften, zurück bleiben sattes Grün und knalliges Gelb. Die Farbenkiller sind bekannt: Mist, Gülle, Herbizide. Mitte der 1990er-Jahre aber stellten Forscher der Universität Basel etwas Erstaunliches fest: Bei einem Vergleich mit Vegetationsaufnahmen aus den 1950er-Jahren im Kanton Jura konstatierten sie, dass sich selbst in streng geschützten Trockenwiesen die schnell wachsenden Pflanzen (Fettzeiger) wie etwa das Gänseblümchen auf Kosten der Spezialisten (Magerkeitszeiger) ausgebreitet hatten. Die Zunahme von Fettzeigern weist auf ein steigendes Nährstoffangebot im Boden hin. Wie aber ist das möglich, wo doch hier seit Jahren nicht gedüngt wurde? Woher stammen diese zusätzlichen Nährstoffe? Es gibt dafür nur eine Erklärung: aus der Luft. Und einen möglichen Urheber: Stickstoff.
Eine Studie des Umweltbüros Hintermann & Weber konnte schliesslich einen direkten Zusammenhang zwischen den Stickstoffeinträgen aus der Luft und dem Nährstoffangebot im Boden sowie der Artenvielfalt aufzeigen. Wo die Depositionen von Stickoxiden und Ammoniak aus der Luft hoch sind, findet sich auch ein höheres Nährstoffangebot im Boden, was in vielen Fällen den Artenreichtum mindert. Grund dafür ist der verschärfte Konkurrenzkampf: Einige Pflanzen wachsen dank der Düngung deutlich schneller als andere, welche überwuchert, beschattet und schliesslich eliminiert werden. Mit der pflanzlichen Vielfalt gehen auch die Bestände vieler Tierarten zurück. Die Bestäuberinsekten und die Larven spezialisierter Schmetterlinge finden nicht mehr ausreichend Nahrung in den Wiesen und die Vögel nicht mehr ausreichend Insekten. «Stickstoffeinträge sind neben der direkten Zerstörung von Lebensräumen zu einer der grössten Gefahren für die Biodiversität geworden», erklärte jüngst Sarah Pearson, Leiterin der Sektion Arten und Lebensräume beim Bundesamt für Umwelt (Bafu), im Magazin umwelt.
Das mag paradox klingen. Denn für die belebte Natur ist Stickstoff unerlässlich. Ohne ihn gäbe es keine höheren Tiere und Pflanzen, und natürlich auch keine Menschen. Alle wichtigen Lebensprozesse werden von Sub-stanzen gesteuert, die Stickstoff enthalten. Aminosäuren etwa und somit auch Proteine basieren auf Stickstoff. Ebenso das Molekül Chlorophyll, das den Pflanzen ihre grüne Farbe verleiht und sie aus Sonnenlicht Energie gewinnen lässt. Allerdings können Pflanzen und Tiere nicht jede Form von Stickstoff verwerten. Mit elementarem Luftstickstoff, der vier Fünftel der Atmosphäre ausmacht, können die meisten Lebewesen nichts anfangen. Nur Stickstoff in Form von Nitrat, Harnstoff, Aminosäure oder anderen Verbindungen ist für sie nutzbar. In dieser reaktiven Form ist Stickstoff in der Natur eher selten.
Der gesprengte Kreislauf
Lange Zeit waren Blitze und Vulkanausbrüche die einzigen Prozesse, die zur Entstehung von bioverfügbarem Stickstoff führten. Bis es vor ca. 2,5 Milliarden Jahren bestimmten Mikroorganismen gelang, Luftstickstoff zu binden und für sich nutzbar zu machen. Der überschüssige Stickstoff gelangte in den Boden und stand nun auch anderen Organismen zur Verfügung. Es entstand ein weitgehend geschlossener Kreislauf, in dem Stickstoff in verschiedenen chemischen Formen zwischen Boden, Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen zirkulierte. Mit der industriellen Revolution begann der Mensch, diesen Kreislauf aufzubrechen. Bei der Verbrennung von Kohle, Holz, Gas und Erdöl entstanden riesige Mengen an Stickoxiden, die über die Luft in die Ökosysteme gelangten. Vollends durcheinander geriet der Kreislauf, nachdem es den Chemikern Fritz Haber und Carl Bosch um 1910 gelungen war, aus Luftstickstoff bioverfügbaren Stickstoff zu gewinnen. Ihr Verfahren ermöglichte es, den unerschöpflichen Vorrat an Luftstickstoff anzuzapfen und industriell Kunstdünger herzustellen.
Doch die künstlichen wie auch die organischen Dünger haben ihre Nebenwirkungen. Denn die Pflanzen verwerten nur einen Teil der Düngemittel und geben den Rest an den Boden ab, wo er von Mikroorganismen zu molekularem Stickstoff umgewandelt wird. Dabei entsteht als Nebenprodukt Lachgas, ein hochaktives Treib-hausgas. Ein weiterer Teil gelangt in Form von Nitrat über Drainagen und Abschwemmungen in die Gewässer, wo er erheblichen Schaden anrichten kann. Bei einer Überversorgung mit Stickstoff kommt es zu einem starken Algenwachstum, was zu Sauerstoffmangel und lebensfeindlichen Bedingungen für Tiere und Pflanzen führen kann. Wegen der Eutrophierung starben in der Schweiz zahlreiche Fischarten aus (siehe Ornis 2/16). Noch in den 1980er-Jahren waren viele Schweizer Seen «tot», einige werden heute noch künstlich beatmet. Dank neuen Reinigungsstufen in den Kläranlagen und deutlich niedrigeren Phosphoreinträgen sind die Seen inzwischen in einem guten Zustand; viele kleinere Gewässer in der Nähe der Intensivlandwirtschaft aber weisen immer noch zu hohe Nährstoffwerte auf.
Eine Volldüngung per Luftpost
Lange Zeit unterschätzt wurden die Stickstoffverluste via Luft. Wenn Kunstdünger oder organische Dünger (Gülle, Mist) mit Luft in Kontakt kommen – zum Beispiel beim Lagern und Ausbringen auf den Feldern – verflüchtigt sich fast die Hälfte des darin enthaltenen Stickstoffs in Form von Ammoniak. Dieser gelangt über die Atmosphäre früher oder später in die Böden auch weit entfernter Lebensräume. Von Natur aus beträgt der atmosphärische Eintrag von biologisch aktivem Stickstoff 0,5 bis 2 Kilogramm pro Hektare und Jahr. Heute gelangen in der Schweiz jedes Jahr im Durchschnitt 19 Kilogramm Stickstoff pro Hektare in den Boden; rund zwei Drittel davon sind Ammoniak, ein Drittel Stickoxide aus dem Verkehr. Je nach Standort schwankt dieser Wert zwischen 3 und 60 kg. Das entspricht in etwa jener Menge an reaktivem Stickstoff, wie sie im 19. Jahrhundert als Dünger auf einer Hektare Ackerland ausgebracht wurde. Vergleichsweise tief ist der Wert in den Alpen, die höchsten Werte verzeichnen verkehrsreiche Standorte im Südtessin.
Nicht alle Lebensräume reagieren gleich auf die Stickstoffeinträge. Besonders sensibel sind Moore, Trockenrasen oder Wälder auf Rohböden. Hier gedeihen Arten, die an eine geringe Nährstoffversorgung angepasst sind. Aufgrund der unterschiedlichen Empfindlichkeiten hat ein internationales Forscherteam für alle wichtigen Lebensräume den maximal tolerierbaren Stickstoffeintrag definiert. Bei Hochmooren beispielsweise liegt die Belastungsgrenze zwischen 5 und 10 kg/ha, bei Laubwäldern zwischen 10 und 20 kg/ha.
Diese Grenzwerte sind heute Bestandteil des Übereinkommens über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung der Uno-Wirtschaftskommission für Europa (UNECE). Die Schweiz hat sich in diesem Abkommen dazu verpflichtet, die Stickstoffeinträge so zu senken, dass die Grenzwerte nicht überschritten werden. Hierfür sind noch grosse Anstrengungen nötig. Analysen haben gezeigt, dass 100% unserer Hochmoore, 84% der Flachmoore, 95% der Wälder und 42% der Trockenwiesen und -weiden viel zu hohen Stickstoffeinträgen aus der Luft ausgesetzt sind.
Das Schachbrett saugt gerne Nektar auf Flockenblumen. Geht die Vielfalt der Blumen zurück, schwindet auch jene der Falter. © Albert Krebs
Wälder leiden unter unausgewogener Ernährung
Die Folgen der atmosphärischen Stickstoffeinträge sind insbesondere im Wald gut erforscht. Wissenschaftler können auf die Daten des nationalen Walddauerbeobachtungsprogramms zugreifen, das seit 1984 auf inzwischen 179 Probeflächen die Schicksale von Fichten, Buchen und Eichen verfolgt. Sie stellten dabei fest, dass die Bäume auf Flächen mit hohen Stickstoffeinträgen schneller wachsen. Stickstoff-Überschüsse können allerdings die Aufnahme anderer Elemente wie zum Beispiel Magnesium hemmen. Die Bäume werden dadurch anfälliger gegenüber Frost, Schadinsekten und Trockenheit. Zu schaffen macht ihnen auch die zunehmende Bodenversauerung – eine Folge der hohen Ammoniakeinträge. Die Versauerung mindert das Angebot an wichtigen Pflanzennährstoffen im Boden wie Kalzium, Kalium und Magnesium. Deshalb konzentrieren die Bäume ihr Wurzelwachstum auf die obersten Bodenschichten, wo die Nährstoffnachlieferung aus der Streu noch gewährleistet ist. Die abflachenden Wurzelteller reduzieren jedoch die Standhaftigkeit der Bäume. Zu beobachten war dies etwa beim Sturm «Lothar» im Jahr 1999, als in versauerten Böden viermal mehr Bäume umstürzten als in Vergleichsflächen mit weniger sauren Böden. Infolge der hohen Stickstoffeinträge nimmt auch die Artenvielfalt im Wald ab: Es breiten sich beispielsweise Brombeeren aus, die das Aufkommen von Jungwuchs hemmen.
Gut untersucht sind auch die Schweizer Moore. Die Wirkungskontrolle Moorbiotope hat aufgezeigt, dass zwischen den Kontrollperioden 1997 und 2006 in einem Viertel der Moore die Nährstoffversorgung deutlich zugenommen hatte. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen, auch in den geschützten Biotopen von nationaler Bedeutung, wie ein erster Zwischenbericht der 2011 gestarteten Wirkungskontrolle Biotopschutz Schweiz zeigt. Die Moore werden nährstoffreicher und trockener. In den Hochmooren verschwinden typische Hungerkünstler wie insektenfressende Sonnentau-Arten. An den Rändern der Flachmoore breiten sich Hochstauden aus, während Spezialisten wie Mehlprimel und Kelch-Simsenlilie verdrängt werden. «Die übermässigen Stickstoffeinträge führen zu einer Banalisierung der Moorvegetation», erklärt Projektleiter Ariel Bergamini.
Der Stickstoff, der aus der Atmosphäre in die Böden gelangt, stammt zu grossen Teilen aus der Viehwirtschaft. Sie entlässt pro Jahr rund 50 000 Tonnen Ammoniak in die Luft und verantwortet damit 85 Prozent aller Ammoniakemissionen. Während der Ausstoss von Stickoxyden dank dem Einsatz neuer Fahrzeugfilter zwischen 1990 und 2010 um 47 Prozent zurückging, hat sich beim Ammoniak wenig verändert. Die Emissionen nahmen in dieser Zeit lediglich um 16 Prozent ab – als Folge sinkender Viehbestände. Im europäischen Vergleich weist die Schweiz nach Holland die zweithöchsten Ammoniak-emissionen pro Hektare landwirtschaftlicher Nutzfläche auf: 45 kg. Der Bund strebt bis 2020 eine Reduktion um 40 Prozent gegenüber 2004 an. Er will dies primär mit Massnahmen an der Quelle erreichen und fördert u.a. neue Methoden zum Ausbringen der Gülle. Wenn diese mit Schleppschläuchen oder injizierenden Düngemaschinen direkt in den Boden eingebracht wird, sind die Verluste durch das Verflüchtigen von Ammoniak um bis zu 50% kleiner als mit der herkömmlichen Methode, bei der die Gülle versprüht wird. In den letzten Jahren konnten durch solche Massnahmen die Emissionen markant reduziert werden. Die Einsparnisse wurden jedoch durch zusätzliche Emissionen aus den Laufställen nahezu kompensiert. Für das Tierwohl sind diese neuen Ställe ein Fortschritt, doch verflüchtigt sich darin mehr Ammoniak als in herkömmlichen Anbindeställen, wo die Ausscheidungen der Tiere rasch abgeführt werden. Mit baulichen Massnahmen (z.B. Quergefälle von 3%) lassen sich die Verluste in den Laufställen mindern. Doch das Reduktionspotenzial von technischen und baulichen Massnahmen ist begrenzt: Es wird – beim aktuellen Stand der Technik – vom Bafu auf 30% geschätzt.
Hohe Viehbestände sind hauptsächlich für die hohen Stickstoffeinträge in sämtliche Lebensräume verantwortlich. © Willi Schmid
Stickstoffüberschuss verharrt auf hohem Niveau
Der Stickstoffüberschuss der Schweizer Landwirtschaft liegt seit Mitte der 1990er-Jahre konstant bei rund 100 000 Tonnen pro Jahr. All dieser Stickstoff gelangt in Form von Ammoniak, Lachgas und Nitrat in die Umwelt. Der Überschuss ist eine Folge der zu hohen Nutztierbestände, die hohe Mineraldünger- und Futtermittelimporte erfordern. Während in den letzten Jahren der Import von Kunstdünger zurückging, stiegen die Futtermittelimporte markant an; sie haben sich seit 1990 verdoppelt. Statt Kunstdünger kommt nun viel mehr Gülle auf die Felder. Und eine Trendwende ist nicht zu erwarten: Das Bafu rechnet in einer Studie, dass bis 2020 eine «markante Zunahme» von Stickstoffimporten zu erwarten ist. Die zunehmende Geflügelmast dürfte dabei «eine wichtige Rolle» spielen.
Der gewaltige Überschuss erstaunt, denn die Bauern sind im Rahmen des ökologischen Leistungsnachweises verpflichtet, die Nährstoffkreisläufe in ihrem Betrieb zu schliessen und über den Stickstoffhaushalt Buch zu führen. Die zulässige Stickstoffmenge wird am Bedarf der Pflanzen bemessen. Allerdings ist eine exakte Berechnung nicht möglich, denn der Bedarf hängt von zahlreichen variierenden Faktoren ab, etwa den Niederschlägen oder Vorkulturen. Bei der Bilanzierung ist deshalb ein Stickstoffüberschuss von plus 10% des Bedarfs erlaubt. Wenn alle Schweizer Betriebe diese 10% ausnutzen, ergibt dies 9000 Tonnen Stickstoffüberschüsse pro Jahr. Hinzu kommen die «unvermeidbaren Verluste» im Stall, bei der Lagerung und beim Ausbringen der Dünger.
Stickstoff ist ein Grundbaustein der Natur und findet sich in Luft, Wasser und Boden, in Pflanzen und Tieren und auch im Menschen. Alle brauchen Stickstoff zum Überleben. Auf unserem Planeten überwiegt der reaktionsträge elementare Stickstoff. Doch durch menschliche Aktivitäten gelangen immer mehr reaktive Stickstoffverbindungen wie Nitrat, Ammoniak oder Stickstoffdioxid in die Umwelt. Ihr Überschuss bedeutet eine erhebliche Belastung für Mensch und Natur.
Heimisches Gras statt importiertes Kraftfutter
Mit der Bilanzierungspflicht allein lässt sich das Stickstoff-Problem also nicht beheben. Damit die Ziele erreicht werden können, braucht es eine deutliche Reduktion und eine bessere Effizienz des Stickstoffeinsatzes. Die Agrarpolitik will nun die Tierbestände senken und hat deshalb die Tierbeiträge gestrichen. Zudem wird im Rahmen der Agrarpolitik 2014-2017 die graslandbasierte Milch- und Rindfleischproduktion gefördert. Das Rindvieh soll möglichst lange auf der Weide sein und wenig importiertes Kraftfutter fressen, womit der Stickstoffimport reduziert wird. Die Voraussetzungen für eine grasbasierte Rindviehfütterung sind in der Schweiz aufgrund der tiefgründigen Böden und regelmässigen Niederschläge ideal. Die Vereinigung integriert produzierender Bauern und Bäuerinnen (IP Suisse) hat diesen Ansatz mit der Lancierung der «Terra-Suisse-Wiesenmilch» im Jahr 2011 vorweggenommen. Die eingeschlagenen Stossrichtungen sind richtig, doch muss der Grasanteil im Futter noch viel stärker erhöht werden, als dies bisher der Fall ist.
Schlussendlich stehen auch die Konsumentinnen und Konsumenten in der Verantwortung. Sie können mit der Wahl der Produkte und einem moderateren Fleischkonsum dazu beitragen, dass die Verfettung der Schweiz abgebremst wird.
Nicolas Gattlen arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Kaisten AG.
Es grünt so grün